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Donnerstag, 4. März 2004
21 Gramm
Regie: Alejandro González Iñárritu

Die Geschichte, wenn man sie linearisiert, ist schnell erzählt. Jack Jordan (Benicio Del Toro), ein ehemaliger Kleinkrimineller, nunmehr ein fanatischer Christ (born again christian), tötet bei einem Autounfall den Ehemann und die beiden Töchter der Christina Peck (Naomi Watts) und begeht Fahrerflucht. Das Herz des überfahrenen Architekten wird dem schwerkranken Mathematiker Paul Rivers (Sean Penn) transplantiert. Rivers, den von da an nur noch der Wunsch treibt, zu erfahren, wessen lebenspendende Pumpe er in seiner Brust trägt, verliebt sich bald in die Witwe, die der dreifache Verlust in die tiefste Depression gestürzt hat. Als Christina erfährt, wer Paul wirklich ist, verlangt sie von diesem, er müsse für sie Jack Jordan töten, den der Staat gefasst aber viel zu milde bestraft hat.

Die Gerechtigkeit ist eine Illusion. In einer Schlüsselsituation sitzt die Familie Jordan am Esstisch. Die Tochter winselt, weil ihr Bruder sie geschlagen hat. Die Reaktion des Vaters ist verblüffend und dennoch folgerichtig. Er verlangt von dem kleinen Mädchen, es solle den anderen Arm hinhalten, damit der Bruder auch auf diesen schlagen kann. Nach dem die Kinder sich dem Befehl des Vaters gebeugt haben, sitzen nur noch der zornige Mann und der verängstigte Junge am Tisch. Obwohl christlicher Vorstellung von Gerechtigkeit gefolgt, stellt sich in Jack nicht die erwartete Befriedigung ein. Erst als er seinen Sohn mit einem Hieb bestraft, ihn den Schmerz spüren lässt, den dieser zuvor seiner Schwester zufügte, stellt sich das Gleichgewicht in seinem Universum wieder her. Bemerkenswert ist seine lautstarke Mahnung, niemand dürfe in seinem Haus einen anderen schlagen. Sie steht ganz offen im Widerspruch zu der von ihm gewählten Bestrafungsmethode. Dort ist die Lehre Gottes, zumindest des christlichen Gottes und hier die intuitive Tat eines einfachen Sterblichen. Wer überführt hier wen der Heuchlerei?

Die unzähligen Kuben eines zerbrochenen Spiegels gewähren einen tieferen Blick in die Welt der Existenz, als der Glaskörper in seiner Vollkommenheit uns je bieten kann. Die gewählte Erzählform, die Deformation der Zeit, ist die einzige Möglichkeit, der Ungeheuerlichkeit der Handlung gerecht zu werden, ohne Sentimentalitäten zu erzeugen. Die kleinen Zeitfenster, aneinander gekettet, bar jeglicher Chronologie, in denen uns die Auslöschung der beteiligten Figuren vorgeführt wird, sind Scherben eines filigranen Gebildes genannt Gesellschaft. Diese Erzähltechnik wird durch die kongeniale Kameraleistung unterstützt. Wir schauen die Bilder auf der Leinwand an und wissen, es handelt sich um Amerika und um keine keimfreie Kulisse, in der Amerika simuliert werden soll. Der Dreck der einen Straße geht in der nächsten in die Bemühung des hispanischen Arbeiters über, die Vorgärten der oberen Mittelschicht von gefallenem Herbstlaub zu befreien.

Wenn, wie so oft kolportiert, der Gott in uns ist, wo ist dann die Hölle? Es sind mitunter subtile Gesten, die einen großen Schauspieler auszeichnen. Doch bleiben stets die großen Momente in unserem Hirn haften. Wenn Jack Jordan mit den blutleeren Fingerkuppen seiner Hände gegen die Stirn trommelt und dem Geistlichen seiner Gemeinde, der ihn im Gefängnis besucht, eindrucksvoll demonstriert, wo er die Hölle vermutet, weil ihn seine Tat verfolgt, dann schauen wir in diesem Augenblick in die Untiefen der menschlichen Seele (Benicio Del Toro ist ein Rätsel. Er kann sich während eines Wimpernschlages von einem begehrenswerten Mann in einen abscheulichen Teufel verwandeln). Das Verstörende dieser Szene ist, dass jener Hiatus, der einen Akteur stets von der Figur trennt, entschwindet. Solche Momente gibt es nicht allzu oft im Kino(Auf Anhieb: Travis Bickle/Robert DeNiro in Scorseses Taxi Driver, seinem Spiegelbild drohend und Captain Willard/Martin Sheen in Coppolas Apocalypse Now, vollgepumpt mit Drogen sich im verdunkelten Hotelzimmer verrenkend).

Jack Jordan, der Abschaum, der ehemalige Kriminelle, der kurz vor dem Unfall seinen Job als Caddie in einem Golfclub wegen einer Nichtigkeit verliert, deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder in die Kriminalität driften wird, löscht eine liebenswürdige Familie aus und kommt, weil er mit dem Geld aus dem Verkauf seines Pick-ups einen guten Anwalt bezahlen kann, aus dem Gefängnis wieder heraus. Das ist die Situation. Wird Rivers die Raskolnikoffsche Tat tun?

Eines der Rätsel des Films ist es, wieso der Mann, der die Gärten vom Laub befreit - eine Randfigur, mit der der Zuschauer vertraut ist, weil er drei Auftritte hat und in einer Szene sogar direkt mit dem getöteten Architekten kommuniziert- sich mit dem flüchtenden Fahrer solidarisiert, in dem er ihn nicht verrät, obwohl dessen sehr auffälliges Gefährt mit dem Motto "Faith“ eindeutig zu identifizieren ist.

Was bedeutet aber 21 Gramm?

Tja.


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Letzte Aktualisierung: 2024.02.27, 08:53
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